Paul Gussmann

„Wer…..schon im „Heute“ auf das „Morgen“ blickt, muss das „Gestern“ vor dem Verschwinden bewahren und es durch Erinnerung festzuhalten suchen. In der Erinnerung wird Vergangenheit rekonstruiert.“
(Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis (¹) 

           (pwe) Irgendwann im Sommer oder Frühherbst 1938 wurde ein jüdischer Mitarbeiter der Apollo Garage während der Arbeitszeit von der „Schutzpolizei“ abgeholt. „Sie zerrten ihn hinaus“, erinnerte sich der Sohn des Hauses, Kurt Weber. Es war eines der schrecklichen Erlebnisse aus dieser Zeit, auf die er lebenslang in Erzählungen immer wieder zurück kam. Er war damals sieben Jahre alt und konnte sich später nur an den Nachnamen erinnern: Herr Gussmann, der Neuwagenverkäufer. Er wußte allerdings nicht, was mit ihm passiert war. Herr Gussmann soll nach der Verhaftung nie mehr ins Unternehmen zurückgekehrt sein.

Das Unbehagen

     Bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Familienbetriebes geriet diese oft repitierte Geschichte wieder ins Bewusstsein. Was war mit Herrn Gussmann geschehen? Wenn er nie mehr zurückkam, wie war sein weiteres Schicksal? Wurde er Opfer der Shoa? Dann sollten wir einen "Stein der Erinnerung" setzen. In den Bergen an Unterlagen aus 90 Jahren Betrieb fanden wir aber genau dies nicht: Dokumente aus jener Zeit. Daher wussten wir nicht einmal zuverlässig, ob denn überhaupt der Name „Gussmann“ richtig war. Kurt Weber war mittlerweile verstorben, auch diese Quelle war nicht mehr zugängig.
     Nach einer Kontaktaufnahme mit dem Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI) im Juni 2023, stellten wir dort Ende Oktober 2023 eine Anfrage nach dem Verbleib von Herrn Gussmann. Mit unserer äußerst mageren Datenlage, motiviert von den furchtbaren Ereignissen des 7. Oktober 2023 in Israel.

Der Anlass

     Ursache der Verhaftung soll ein Vorfall mit einer Gemüsehändlerin gewesen sein, die ihren kleinen Laden gegenüber der Apollo Garage hatte. Herr Gussmann, Neuwagenverkäufer im Unternehmen, pflegte wohl über Jahre morgens bei ihr Obst zu kaufen. Und zwar genau drei Stück: Jeweils ein Stück für die beiden Sekretärinnen der Garage und ein Stück für ihn selbst. Immer wieder soll es vorgekommen sein, dass ein Stück Obst verdorben war. Es soll sich dabei um jenes gehandelt haben, das ganz unten im Papiersackerl lag. Wie allgemein bekannt war, überreichte er zur morgendlichen Begrüssung den Damen jeweils ein Stück Obst. Um dann - offenbar zu oft - ein verdorbenes Stück für sich selbst vorzufinden. Eines Tages soll er darüber so außer sich geraten sein, dass er hinaus auf die Straße lief und das verfaulte Stück Obst unter lautem Protest gegen das Obstgeschäft warf. 

    Herr Gussmann war Jude.  Man ging davon aus, dass er wegen des Vorfalles angezeigt wurde, da die Verhaftung unmittelbar darauf erfolgte. Von wem, wusste die Familie nicht. Wir denken, es kämen durchaus verschiedene Personen in Frage. Eine Anfrage nach einem möglichen Zusammenhang / Verhaftungsgrund bei einem kompetenten Archiv (²) , führte diesbezüglich zu keiner Erkenntnis.

Am 10. November 2023 erhielten wir eine ausführliche Antwort vom VWI:

Das VWI stellt uns folgende Informationen und Daten aus seinen Archiven zur Vefügung. 
Das Wichtigste für uns daraus ist:  
     "Paul Gussmann, geboren am 01.11.1888 in Wien, war nach Absolvierung der Handelsakademie tätig als Kaufmann und Autoverkäufer; Unter anderem auch in der Zoll- und Speditionsbranche beschäftigt, dort in leitender Position; Zuletzt war er Vertreter der Steyer Werke, neben der Leitung des Autoverkaufs auch Betriebsleiter der zugehörigen Werkstätte (Anm.: der Apollo Garage); er war geschieden und hatte keine Kinder.  Im August 1938 befand er sich zwei Tage in Haft im Polizeirevier Taubstummengasse, im 4. Wiener Gemeidebezirk. Im November 1938 zehn Tage in Gänserndorf als Gestapohäftling. Paul Gussmann wollte lt. Vermerk der Kultusgemeinde am 24. Jänner 1940 nach New York emigrieren, er hatte ein entsprechendes Ansuchen für eine Schiffspassage für die Italialine gestellt.
Und: er hatte ein Referenzschreiben der Fa. Weber & Rühl, Wien VII, Apollogasse 13 angegeben."  (³)
Das war er doch!

     Nun erfuhren wir aus den Unterlagen, dass er damals auch der Büroleiter der Apollo Garage war. So konnten wir ihn, zusätzlich auf Grund des Alters (51), auf einem Mitarbeiterfoto identifizieren. Offenbar hat es doch noch Kontakt zur Firma gegeben, sodass ihm ein Referenzschreiben ausgestellt wurde. Laut einer Historischen Meldeauskunft beim Wiener Stadt- und Landesarchiv hat Herr Gussmann tatsächlich seinen letzten Wohnsitz in der Riemergasse Anfang 1940 abgemeldet, mit dem Ziel: USA

Foto: © Apollo Garage

Paul Gussmann

     sitzt in der Mitte des Bildes zwischen den Sekretärinnen. Eingerahmt von den Mechanikern, Taschnern, Sattlern, Spenglern und Lackierern der Apollo Garage.
Das Bild hängt im Bürohäuschen - seit über 85 Jahren.

Und dann?

     Sofort stellte sich der nächste drängende Gedanke ein: Hat er es an den italienischen Hafen geschafft? Ging er an Bord, welches Schiff der Italialine kommt in Frage? Kam er letztendlich in New York an? Nach unnötigem verzetteln mit der Suche nach Schiffsrouten, möglichen Passagierdampfern udgl. stellte sich die Antwort überraschend schnell und einfach heraus. Wir erinnerten uns an einen Besuch des National Museums of Immigration auf Ellis Island in New York. Damals konnte man nach in die USA ausgewanderten Verwandten direkt vor Ort recherchieren. Ein Blick auf die Hompage - et voilà! man kann es auch online machen. Es reichen bereits Name und Geburtsdatum für eine passable Auskunft.

Gerettet

     Paul Gussmann ging am 20. Februar 1940, als Passagier der Conte Di Savoiain Ellis Island (NY) von Bord. Seine Passage war für 1. Februar 1940 ausgestellt worden. Auslaufhafen war Genua (⁵).
Ob sein Bruder Hans, sein Neffe Victor und Schwägerin Rosa es auch geschafft haben, das wissen wir nicht. Amerika war jedenfalls nicht ihr Ziel. Mutter Berta ruht am alten jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs,  gestorben ist sie im August 1938.

Nr. 7! Ellis Island Passenger Search (⁵)
Quellen:
(1) Assman, Jan: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen / Jan Assmann. - 3. Aufl. dieser Ausg. - München: Beck, 2000; Seite: 31
(2) Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DOEW)
(3) Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI)
(4) Wiener Stadt- und Landesarchiv (MA 8)
(5) Ellis Island National Immigration Museum
Maier, Eva: Narrative Interviews mit Kurt Weber; Erinnerungen an ein Leben in Neubau; aufgezeichnet von seiner Nichte 2009- 2010 (Manuskript)